Tagebuch einer Zugreise
„Das Thermometer ist seit gestern ganz bedeutend gesunken (-25 Grad).
Was aber die Kälte besonders unangenehm empfinden lässt, ist der Wind, der einem um Ohr und Nase saust, wenn man sich aus dem warmen Wagen ins Freie wagt. Ein junger russischer Offizier, mit dem ich mich in den letzten Tagen ein wenig angefreundet, hat bereits seine Unvorsichtigkeit ohne Schal ins Freie zu gehen, mit einem erfrorenen Ohr bezahlt. Er war keine fünf Minuten auf dem Perron gewesen. Ich bin sehr vorsichtig in dieser Beziehung, denn es wäre doch scheußlich, wenn mir meine schöne Nase erfröre. Das wäre so ungefähr wie das Matterhorn bei Alpenglühen.“
Henri I. Burkhardt wird von einer Handelsgesellschaft nach Shanghai entsandt und reiste im Dezember 1903 von Zürich durch Sibirien nach China. Seine während der Fahrt niedergeschriebenen Erlebnisse hielt er Anfang 1904 in einem Typoskript fest und ist somit wohl der erste ausländische Reisende, der seine Erlebnisse während einer Winterreise auf der neuen durchgängigen Bahnroute von Moskau nach Dalny zu Papier brachte. Burkhardt, in Feldsee am Zürichsee aufgewachsen, war in seinen frühen Zwanzigern, als er sich auf den Weg nach Fernost begab. Die Reise ist müh-selig und die Bedingungen beschwerlich – kaum mit der heutigen Transsib zu vergleichen. Die frostigen Temperaturen in nur sehr notdürftig beheizten, teils klapprigen Zügen und die zur damaligen Zeit alltäglichen Gefahr von Zug-unfällen, rufen in dem jungen Mann nur allzu menschliche Reaktionen hervor.
Henri Burkhardt schildert in seinem Tagebuch eindrucksreich die Erlebnisse seiner außergewöhnlichen Zugfahrt im Winter 1903. Seine Erlebnisse sind auch zeitlos. Es sind die Begegnungen unterwegs in einem Land, dessen Weite sich wie ein Kontinuum über den Zug stülpt, die das Unterwegssein kurzweilig und für jeden Transsib-Reisenden einmalig machen.
und zeitgenössischen Reiseführer‑Auszügen.Herausgegeben von:
Bodo Thöns, Buchautor und Experte für Transsib‑Reisen & Adrian Dinser.