Für einen Streifzug nach Madrid
Temperaturen um die vierzig Grad: Schon seit ein paar Tagen erreichen uns die Nachrichten aus großen Teilen Europas, selbst aus dem hohen Norden Skandinaviens, wo sich die Menschen nach traditionell kurzen Sommerpeaks eigentlich schon bald wieder den frischeren Jahreszeiten widmen würden. Die dünnen Laken von den nackten Beinen gestreift lese ich noch am Morgen von der drohenden Wasserknappheit in Norditalien.
Sommer in Spanien
Auch hier ist es warm, jedoch nicht unerträglich heiß. Die spanische Mittelmeerküste wird von der anhaltenden Hitzewelle verschont. Unter normalen Umständen wäre die Wärme gepaart mit der angenehmen Brise, die durch weit geöffnete Türen weht, nicht der Rede wert. Jetzt ist sie es, weil diese Temperaturen – hier bloß um die dreißig Grad – bei Weitem nicht aus der Norm fallen, während der restliche Kontinent auf verquerte Weise Kopf zu stehen scheint. Seit dem offiziellen Sommerbeginn, den man auch hier in Spanien mit zahlreichen Festen und Traditionen feiert, sind die Strände und Gassen der Altstadt von Altea mit Menschen gefüllt. Zwischen ikonisch weiß getünchten Häuserfassaden, Dachterrassen und dem warmen Licht, das die Altstadt mit der untergehenden Sonne erfüllt, strahlen braungebrannte Körper unter hellen Leinen und bunten Seiden. Dazu das ausgelassene Stimmengewirr, das sich in Restaurants und Bars mit Musik vermengt. Inmitten einer Vielzahl europäischer Sprachen dringen immer wieder auch spanische Dialekte und katalanische Variationen an mein Ohr. Die Pandemie hat den spanischen Lokaltourismus merkbar gefördert, wenngleich das Konzept der Sommerfrische wohl schon seit jeher zum festen Bestandteil der unverkennbaren Kultur gehört.
Stadt statt Strand
Während die seichte Brise und die Aussicht auf eine Abkühlung im frischen Blau, das in postkartenschönen Farben im Sonnenlicht funkelt, von Tag zu Tag mehr Menschen aus der Stadt an den Strand ziehen, beschließen wir, den gegenteiligen Weg anzutreten. Vom Küstenstädtchen Altea fahren wir ins nahegelegene Alicante und reservieren am Bahnhof unsere Sitzplätze für die nächste Zugverbindung nach Madrid. Wirft man einen Blick auf das spanische Schienennetz, so scheint die zentralgelegene Hauptstadt der italienischen und ihrem bekannten Sprichwort Konkurrenz zu machen. Ja, in Spanien führt der Weg – zumindest für jene, die ihn mit der Bahn bestreiten – in den meisten Fällen durch, wenn nicht sogar direkt nach Madrid.
Schon kurz nach der Abfahrt werfe ich mir einen dünnen Pullover über. Wie die meisten Geschäfte haben es auch die spanischen Züge an sich, es mit der Temperaturregulierung so gut zu meinen, dass selbst diejenigen, die eben noch schwitzten und jappten, nun beinahe zu frösteln beginnen. Auf knapp drei Stunden Fahrt bin ich überrascht, wie häufig sich die Landschaft vor meinem Fenster ändert, wie graue Felsen aus dürrem Boden hervorbrechen und schon wenige Kilometer später in gelbe Stoppelfelder und adrett gepflanzte Reihen heranwachsender Olivenbäume übergehen. Wir fahren durch Wälder, vorbei an schier endloser Weite, in dessen Ferne hier und dort mal ein Ort auf einem Hügel thront, durch vereinzelte Tunnel und wieder vorbei am nächsten Feld, der nächsten Baumschule und wilden Wiese.
Am Bahnhof Madrid Atocha, einem von zwei Fernbahnhöfen der Stadt, entlässt uns der Zug erneut in die Sommerwärme. Wir folgen dem Schwall von Menschen, der sich über Treppen und Laufbänder dem Ausgang nähert, und finden uns wenige Augenblicke später im Freien wieder, wo sich die Massen so schnell auflösen, wie sie sich zuvor auf dem Bahnsteig gebildet hatten. Auf den Straßen rauschen ein paar Autos und Roller vorbei. Auf den Wegen spazieren Menschen. Im späten Juni scheint die Stadt zu gewähren, was sie sonst kaum bietet: Platz, Gelassenheit, die Ruhe selbst. Wir schlendern über die Calle de Atocha in Richtung der Puerta del Sol und weiter zum Plaza del Carmen, wo wir ein Zimmer für die Nacht beziehen.
Tapas, Wein und Muße en masse
Mit seiner Reichhalt an ausladenden Terrassen, Restaurants und Bars lädt Madrid dazu ein, genossen und probiert zu werden, bevor man sich zeitlos treiben lässt und schaut, wohin die Stadt einen zieht. Noch vor dem Hotel genießen wir ein kühles Bier, bevor sich der erste Appetit erkenntlich macht. Der „Mercado de San Miguel“ gilt als Touristenattraktion, doch besonders jetzt, wo die Scharen an Touristen dem Ruf anderer Regionen folgen, scheinen auch die Einheimischen die kunstvolle Darbietung der Spezialitäten ihrer Landesküche in vollen Zügen zu genießen. An den Tresen der rund dreißig Stände finden sich Menschen in kleinen Trauben zusammen, doch es bilden sich kaum Schlangen. Wir bestellen Rotwein, eine Käseplatte, Kroketten und Fisch, und finden an der langen Tresenzeile entlang der bodentiefen Fenster Platz. Mit jedem Bissen der Tapas verteilt sich ein neuer Geschmack im Mund und der Wein, ein Ribera del Duero, schmeckt, besonders weil er in einem richtigen Glas serviert wird und man sich damit frei im ganzen Gebäude bewegen kann, wunderbar.
Als wir durch die großen Türen zurück ins Freie treten, wirbeln einige junge Breakdancer über den Platz vor einem angrenzenden Restaurant. Wir bleiben einen Moment stehen, lassen die neue Stimmung auf uns wirken, und ziehen weiter. Nicht weit entfernt führt eine beinahe unscheinbare Türöffnung vorbei an einer spärlich beleuchteten Bar und in einen gewölbten Innenraum. Rechts und links eine Handvoll Tische, in der Mitte ein Pianist am E-Piano. Zwei Wände sind mit gekachelten Bildern verkleidet und an der weiß gemalten Steindecke hängen runde, gelbliche Pilze. Im „Méson del Champinon“ ist der Name Programm, die Stimmung eine schier paradoxe Mischung aus touristisch und eigen, die sich augenblicklich als sympathisch erweist. Die Kellner bewegen sich mit einer Leichtigkeit, die sich nur schwer aufsetzen lässt und die teils schon betagten Männer sogleich um ein paar Jahre jünger wirken lassen. Über ein Notenblatt hinweg zwinkert mir der Pianist zu, während seine Hände wie von selbst Lieder spielen, die die Menschen kennen und mitsingen können. Beschwipst vom Wein und dem Moment gibt sich eine Gruppe Argentinier am Nachbartisch einer inbrünstigen Gesangseinlage hin, die dem Pianisten eine wahre Freude bereitet und auch den restlichen Gästen verschmitzte Lächeln entlockt.
Die Straßen sind wie leergefegt, als wir erneut nach draußen treten. Ein übriggebliebener junger Mann steigt auf seinen Scooter. Hinter ihm der nun spärlich beleuchtete „Mercado de San Miguel“, dessen Glasfassaden das Licht der umliegenden Laternen spiegeln. Unter der Woche scheint die Hauptstadt im Sommer zur Ruhe zu kommen. Wir schlendern durch die Gassen, beobachten vereinzelte Nachtschwärmer in Bars, Freunde, die an Brunnen sitzen und Paare, die Arm in Arm über den beinahe menschenleeren Plaza Mayor spazieren.
In den Fußspuren der Einheimischen
Entspanntes Treiben am nächsten Morgen: Einheimische auf dem Weg zur Arbeit, Terrassen, die für den Tag bereitgemacht werden. Einige Läden sind noch zu. In einem Eckcafé am Plaza de Jacinto Benavente bestellen wir Churros, Kaffee und Organgensaft. Noch bin ich skeptisch, das letzte Geschmacksdebakel triefend fettiger Churros ist mir auch Jahre später noch immer in lebhafter Erinnerung. Dieses Café jedoch scheint zumindest die Zustimmung der Einheimischen zu genießen und schon bald wird meine Skepsis eines Besseren belehrt. So sollen also Churros schmecken!
Es wird wärmer, je höher die Sonne in den Himmel steigt, doch bevor wir uns zurück auf den Weg Richtung Küste machen, steht noch ein Besuch des Retiro Parks aus. Den Kristallpalast habe ich vor Jahren schon einmal gesehen und möchte ihn auch dieses Mal nicht missen. Am Eingang des Parks passieren wir kleine Holzhütten, vor denen Händler Stapel und Kisten gebrauchter Bücher drapieren. „Was glaubt ihr: Wie viele spanischsprachige Bücher habe ich in meinem Leben an amerikanische Touristen verkauft?“ Überrascht schaue ich von einer Bücherreihe auf. Der Mann spricht Spanisch, aber langsam genug, sodass auch ich ihn gut verstehen kann. Er erzählt von den vielen Touristen, die jeden Tag seine Bücher anschauen, und von den unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten, die darüber entscheiden, wie nah er den Menschen kommt, wie er sie adressiert und ob er ihnen direkt in die Augen schaut. Woher ich komme, fragt er erst nach einer ganzen Weile. „Ich bin Deutsche“, sage ich. Er lacht – und tritt einen merkbaren Schritt zurück. Das dunkelrot eingeschlagene Buch mit den goldenen Ornamenten, das aus der Reihe „Grandes Novellas Historicas“ stammt, schenkt er mir. Wie viele spanischsprachige Bücher er an amerikanische Touristen verkauft hat? Kein einziges. Nach den vorherigen Geschichten lässt er das am Ende einfach so stehen.
Überall im Park sitzen Menschen. Im Gras, auf den Bänken. Im Schatten der Bäume bringen andere ihre Körper in Wallung. Der Kristallpalast ist genauso majestätisch, wie ich ihn in Erinnerung habe. Aus dem Inneren schauen wir in den grünen Park und lassen das Licht auf uns wirken, das durch die Baumkronen und die vielen Fenster fällt.
Vom Retiro Park ist Madrid Atocha nur eine Straßenecke entfernt. Am Ende müssen wir uns doch beeilen – das erste Mal, seit wir Madrid betreten haben. Im Hauptbahnhof herrscht ein Anflug von Hektik, wie man sie in der gesamten Großstadt erwarten würde. In der klimatisierten Halle reihen sich Reisende in Schlangen ein. Momentanes Chaos, die Bahnanzeigen sind ausgefallen. Dann öffnen sich die Schiebetüren und die Massen setzen sich erneut in Bewegung. Auf den heißen Bahnsteig, in einen vollen Zug, an ein gemeinsames Ziel.
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