Von Berlin nach Prag
Wir sind am Bahnhof Berlin Südkreuz verabredet. Jaroslav Rudiš telefoniert, und als er uns am Bahnsteig erspäht, kommt er auf uns zugelaufen. Mit einem Handzeichen gibt er uns zu verstehen, dass er gleich fertig sei. Keine Eile, wir haben ja noch vier Stunden Zugfahrt vor uns, von Berlin Südkreuz nach Prag Hauptbahnhof. Kurz darauf legt er auf und der Zug fährt ein. Es bleibt Zeit für eine kurze und herzliche Begrüßung. Dass Der Passagier Rudiš auf seiner Stammstrecke begleiten darf, ist eine große Ehre und Freude. Die Tür des Speisewagens kommt genau dort zum Stehen, wo wir uns am Bahnsteig positioniert haben. Das ist keine Überraschung, denn nach den unzähligen Fahrten mit dem EuroCity nach Prag weiß er natürlich, wo der Zug am Bahnsteig anhält.
Seine Liebe zum Speisewagen ist bekannt, und als wir uns zu dieser Reise verabredeten, war klar, dass wir die Fahrt im »Esszimmer des Zugs«, wie Rudiš’ Freunde diesen Wagen bezeichnen, verbringen werden. Also steigen wir direkt hier ein.
Die Zugbegleiterin schmunzelt, als sie Rudiš sieht. Sollen wir uns an den Tisch setzen, über dem das Kundenmagazin der tschechischen Eisenbahngesellschaft CˇD hängt? Auf dem Cover der »meridian« ist Rudiš zu sehen – in der schwarzen Lederjacke und dem rot karierten Schal, die er heute auch trägt. »Oder ist das doof?«, will er wissen. Das finden wir ganz und gar nicht. Ihm wie auch uns ist ohnehin bewusst, dass er in diesem Zug nicht inkognito reist. Während der vergangenen drei Fahrten hat er jedes Mal sein Buch »Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen« signiert.
Der Kellner legt uns die Speisekarte hin, die eine wichtige Rolle auf dieser Reise spielen wird. Rudiš bestellt Spiegeleier mit geröstetem Schinken. »Spätes Frühstück mit Spiegelei, ich liebe das!« Ich entscheide mich für den Klassiker, den Rudiš in seinem Buch empfiehlt und auf den ich mich schon lange vor der Abfahrt gefreut habe: Lendenbraten mit Knödeln. Apropos Empfehlungen: Rudiš schwärmt ebenso vom frisch gezapften tschechischen Pilsner Urquell.
Während wir über die böhmische Küche philosophieren, meldet sich plötzlich ein Fahrgast vom anderen Ende des Wagens: »Sie sind doch der hier auf dem Bild!« Er deutet auf den Titel der »meridian«. »Ich habe auch eine kulinarische Empfehlung: das »Lugano« in Hrˇensko bietet ausgezeichnete böhmische Spezialitäten!« Rudiš hat noch weitere schmackhafte Tipps: »Wenn ihr später in Prag seid, solltet ihr das ›Masarycˇka‹ besuchen, ein ausgezeichnetes Restaurant im Bahnhof Masarykovo nádraží. Da gibt es tolles Schnitzel und Beafsteak-Tatar.« Ist notiert. Auf der Fahrt wird sich diese Genussliste noch füllen. Sie merken schon: Gutes Essen ist ein großes Thema dieser Reise.
Trieste Centrale
Anknüpfend an seinen Roman »Winterbergs letzte Reise« verfasste Jaroslav Rudiš die Kurzgeschichte »Triest Centrale«, die am 17. März 2022 erschien. Der Altenpfleger Jan Kraus sitzt mit seinem Patienten, dem 98‑jährigen Wenzel Winterberg in der Berliner Kneipe »Heidelberger Krug«. Winterberg erzählt Kraus die Geschichte einer längst vergangenen Reise mit seiner kranken Frau nach Triest. Durch den Text schafft es Rudiš, starke Bilder zu erzeugen, greift dabei viele seiner altbekannten Motive auf, die wunderbar von den zahlreichen Illustrationen von Halina Kirschner begleitet werden.
»Trieste Centrale« kreuzer books, 12,80 Euro, bestellbar im Buchhandel und unter www.kreuzerbooks.de
Wir verlassen Berlin. Das Wetter ist durchwachsen an diesem Januartag, es fallen Schneeflocken vor den Zugfenstern. Naturgemäß kommen wir auf das Thema zu sprechen, das diese Zeit beherrscht: die Pandemie. Rudiš erzählt, dass der Erscheinungstermin der »Gebrauchsanweisung« verschoben wurde, da das Buch nicht in der Pandemie herauskommen sollte. Schließlich wurde es doch veröffentlicht. »Ich bin so froh, dass wir dieses Buch gemacht haben«, meint er. Denn es ging durch die Decke. Bald erscheint es in der siebten Auflage. Er habe es literarisch angelegt, und kulturhistorisch, viele Geschichten habe er gesammelt, einige Reisen seien wegen Corona nicht möglich gewesen, könnten aber vielleicht für eine spätere Auflage nachgeholt werden.
Außerdem, betont Rudiš, solle das Buch begeistern und zum Bahnfahren animieren, denn Häme und Kritik gebe es genug. Er wolle die Freude am Zugreisen hervorheben. Und über solche Reisen schreiben, die einer Passage glichen. Ich kann nicht anders, als zustimmend zu nicken. Wir stellen fest, dass es eine starke Ähnlichkeit zwischen seinem Buch und unserem Magazin gibt.
Matúš Vavrek, der mich begleitet und im Auftrag des Passagiers fotografiert, bringt sich in Position und macht einige Bilder. Nebenbei erzählt Matúš, dass er aus Humenné in der Slowakei stammt. Und sofort weiß Rudiš, diese Stadt, in der er schon mehrfach war, mit Begeisterung zu verorten. Die Nachtzüge enden beziehungsweise beginnen dort, und es gibt zwei Brauereien mit zugehörigen Gaststätten, eine auf jeder Seite der Gleise. Aha, die nächste Empfehlung. Ich notiere fleißig.
Bahnhöfe, Zugreisen, Kneipen – das ist ganz nach seinem Geschmack. Rudiš findet die Geschichten entlang der Strecken, und die Geschichten finden ihn, so scheint es. »Für mich ist Zugfahren Geschichte.« Damit meint er, dass er hier all die Dramen, Komödien und Anekdoten erfährt oder selbst erlebt, die das Leben der Menschen oder genauer gesagt der Eisenbahnmenschen schreibt…
Wie unser Gespräch auf der Reise nach Prag weitergeht, lesen Sie in der 3. Ausgabe von „Der Passagier – Gen Osten“