Foto: Sammlung J. Klein, Mönchengladbach
„Monsieur Orient-Express“

Über den König der Züge und den Mann, der ihn erschuf

Text: Daria Radler
Gerhard J. Rekel ist Autor und Filmemacher, der sich sowohl in den Welten der Fiktion als auch dem tatsächlich Passierten bewegt. Für seine neueste Biografie, „Monsieur Orient-Express“, recherchierte er die Lebensgeschichte Georges Nagelmackers, dem es zu seiner Zeit trotz großer politischer Hindernisse gelang, Orient und Okzident sowie viele andere europäische Metropolen durch Nachtzüge zu verbinden. Passagier-Redakteurin Daria Radler traf Gerhard Rekel zum Gespräch, um mit ihm über den „König der Züge“ und seinen Erschaffer zu sprechen.
Gerhard Rekel wurde 1965 in Graz geboren und arbeitet seit 1990 hauptberuflich als Autor unterschiedlicher Genres. Was ihn antreibt, ist die Freude am Finden und Erfinden von ambivalenten Charakteren und dramatischen Konstellationen. Im Laufe der Jahre führte er bei diversen Filmproduktionen Regie und Co-Regie.

Der Passagier: „Monsieur Orient-Express“ erzählt vom Lebenswerk Georges Nagelmackers, aber die Geschichte beginnt mit Ihnen: „Als Jugendlicher liebte ich den Duft des Bahnhofs.“ Wie entstand Ihre Liebe zum Zugreisen?

Die Sehnsucht nach dem Fremden, nach dem Geheimnis, nach etwas anderem war praktisch schon immer ein Teil von mir.

Gerhard Rekel: Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und hatte schon relativ früh, mit 12 oder 13 Jahren, die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Ich finde, der Bahnhof ist ein Ort der Sehnsucht. Ein Ort des Fernwehs. Als ich damals an der Bahnsteigkante saß und meinen Fuß auf das Gleis stellte, hatte ich das Gefühl, mit allen wichtigen europäischen Metropolen verbunden zu sein. Ein sehr schönes Gefühl. Mit 17 machte ich sofort die erste Interrailreise und wollte die großen Städte Europas sehen. Später bin ich dann mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren. Die Sehnsucht nach dem Fremden, nach dem Geheimnis, nach etwas anderem war praktisch schon immer ein Teil von mir.

Foto: Sammlung J. Klein, Mönchengladbach

Der Passagier: Dieser Philosophie hätte Georges Nagelmackers wohl direkt zugestimmt. Wie begegneten Sie Ihrem Protagonisten? 

Gerhard Rekel: Der Orient-Express interessierte mich schon vor zehn Jahren und ich hatte bereits die Gelegenheit, einen Film über den „König der Züge“ gestalten zu dürfen. So stieß ich auf die Geschichte Nagelmackers. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie er es schaffte, trotz all der großen politischen und finanziellen Widerstände 180 Nachtzugverbindungen in Europa zu etablieren. Davon konnte ich nicht mehr ablassen, sodass ich nach der Dokumentation noch einmal eineinhalb Jahre recherchierte, um dieses Buch zu schreiben. 

Der Passagier: Was macht den Orient-Express in Ihren Augen so besonders?

Gerhard Rekel: Der Orient-Express baut eine Brücke zwischen Morgen- und Abendland – obwohl der geografische Raum des Orients politisch durch Vorurteile belastet ist. Das Schöne am Orient-Express beginnt schon mit seinem Namen. Menschen haben augenblicklich ein Bild vor Augen: Ein Bild der außergewöhnlichen Teaks-Holz-Wagons, eines grandiosen Speisewagens und von beeindruckenden, vorbeiziehenden Landschaften. Da schwebt etwas Exotisches mit. Vielleicht sogar etwas Erotisches. Ein Gefühl von Abenteuer. Der Begriff „Orient-Express“ ist bei fast allen Menschen positiv konnotiert.

Der Passagier: Seit seinen Anfängen inspirierte der „König der Züge“ Filme und Romane, die sich in die Riege der Weltliteratur eingliederten. Statt thematisch ausgeschöpft zu sein, scheint der Mythos bis heute zu wachsen.

Gerhard Rekel: Der Orient-Express wurde über die Jahre zur Legende. Natürlich haben Agatha Christie und viele andere Autoren und Filmemacher dabei mitgeholfen. Ich sah unlängst, dass es sogar ein namensgleiches Computerspiel gibt. Egal ob jung oder alt – fast alle Menschen verbinden sofort eine Emotion mit dem Orient-Express. Gleichzeitig glaube ich, dass der Zug auch in Zukunft eine Rolle spielen wird. Bei all meinen bisherigen Lesungen kamen oft ähnliche Fragen auf: Gibt es den Orient-Express noch? Oder wird es ihn wieder geben? Es existiert also ein Bedürfnis, mit dem Zug zu reisen. Und soweit ich weiß, wird es den Orient-Express in der ein oder anderen Form tatsächlich bald wieder geben.

Foto: Sammlung J. Klein, Mönchengladbach

Der Passagier: Was der Orient-Express politisch, kulturell und menschlich einst bedeutete und noch immer bedeutet, zeigen nicht zuletzt die vielseitigen Zitate, mit denen Sie Ihre Kapitel beginnen. Wie näherten Sie sich als Autor der Person, die ihn erschuf und damit so Großes bewirkte?

Gerhard Rekel: Das war in der Tat eine Herausforderung, weil Georges Nagelmackers in seinem Leben keine Zeit hatte, ein Tagebuch zu schreiben. Er hatte am Ende 6250 Mitarbeiter, die er dirigieren musste, 900 Waggons und 15 Hotels. Kein Tagebuch ist für eine Biografie problematisch. Ich recherchierte fast ein Jahr und suchte in Archiven in ganz Europa nach Briefen und Zeitungsartikeln, wobei mir auch Experten und Historiker halfen. Insgesamt fanden wir etwa 600 Belege, die viel über Nagelmackers erzählen. Natürlich ist nicht jede Emotion belegt. Wenn man aber weiß, wo Georges Nagelmacker sich befunden hat, was für ein Problem er gerade hatte, was die schönen Dinge in einem Moment waren und auch die weniger schönen, dann kann man das gewissermaßen nachempfinden. Meine Aufgabe war es also, aus all diesen Belegen eine Geschichte zu formen, für die ich versucht habe, soweit wie möglich in Georges Nagelmackers hineinzufühlen und sein emotionales Universum auf Papier zu bringen.

Der Passagier: Sie müssen Georges Nagelmackers mittlerweile wie einen sehr guten Bekannten, vielleicht sogar einen Freund kennen.

Gerhard Rekel: In der Tat. Vor ein paar Wochen bin ich von Prag nach Rijeka mit dem Nachtzug gereist. Manchmal hatte ich das Gefühl, Nagelmackers sitzt neben mir, vielleicht sogar in mir. Wenn man zwei, drei Jahre mit einer Person verbringt und so viel über sie liest und nachdenkt, dann fühlt man sich dem Menschen nahe. Wie einem guten Freund. 

Der Passagier: Georges Nagelmackers Geschichte steht für Hartnäckigkeit und den festen Glauben an die eigenen Visionen. Was lässt sich für unsere heutige Zeit daraus ableiten?

Der Passagier: Nachdem Nachtzüge und der Komfort an Bord lange Zeit der Schnelllebigkeit und dem Transport möglichst vieler Passagiere wichen, erleben Nachtzüge seit einiger Zeit ihre Renaissance. Sogar der Orient-Express nimmt ab 2023 im wahrsten Sinne des Wortes neue Fahrt auf. Was sagen zu den jüngsten Entwicklungen auf europäischen Schienen?

Foto: Sammlung J. Klein, Mönchengladbach

Gerhard Rekel: Ich denke nicht, dass sich Geschichte generell wiederholt, dass es aber Ellipsen gibt, durch die bestimmte Dinge auf eine neue Art und Weise wiederkommen. Der Nachtzug ist ein gutes Beispiel. Aufgrund der Klimakrise ist es nur vernünftig, dass der Streckenausbau weiter vorangetrieben wird. Im Prinzip, glaube ich, ist Europa sich da einig, aber man sieht auch, wie schwierig das ist. Erst kürzlich wurde ein Nachtzug zwischen Stockholm und Hamburg etabliert, der eineinhalb Jahre in Planung war und zunächst mit nur einem Wagon fuhr – trotz moderner Kommunikationsmittel. Da gewinnt man Respekt für Nagelmackers, der 180 solcher Linien betrieb, ohne E-Mail, Fax und Handy. Man merkt, wie geschickt Nagelmackers diplomatisch vorgegangen sein muss, um diese Verbindungen herzustellen. Wenn sich mehrere Länder verständigen müssen, ist die Entwicklung in der Regel sehr komplex. Bis es wieder eine direkte Verbindung zwischen Paris und Istanbul geben wird, werden bestimmt noch ein paar Jahre vergehen. Doch früher oder später wird sie kommen, davon bin ich überzeugt. 

Der Passagier: Zum Schluss noch einmal zurück zum Anfang: Als Jugendlicher liebten Sie den Duft des Bahnhofs. Sind Sie auch heute noch gerne am Bahnhof und mit dem Zug unterwegs?

Gerhard Rekel: Oh ja, ich fahre mit dem Zug, wann immer es möglich ist. Beim Zugfahren steigt man zumeist im Stadtzentrum ein und kann sofort arbeiten oder mit jemandem reden oder einen Kaffee trinken. Es ist ein absoluter Luxus, dass ein Restaurant von Hamburg bis Wien mitfährt und man bedient und verköstigt wird. Vor allem: Auf einer langen Zugfahrt kann man genüsslich ein ganzes Buch lesen. Vielleicht sogar über den „Orient-Express“ (lacht). 

Der Passagier: Gerhard Rekel, vielen Dank für das Gespräch!

Gerhard Rekels Biografie „Monsieur Orient-Express“ erschien im Kremayr&Scheriau Verlag. Die Rezension des Passagiers lesen Sie auf Seite 117 der aktuellen Ausgabe, „Lichtermeer“. Die nächste Gelegenheit, Gerhard Rekel im Rahmen einer Lesung aus „Monsieur Orient-Express“ persönlich zu treffen, bietet sich am 04. April 2023 um 19 Uhr im Forum Weltmuseum in Wien. Weitere Informationen zu Lesungen und Veröffentlichungen des Autors finden Sie unter www.gerhardrekel.de.

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